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Der Ausweg

Das wohl grausamste Gefängnis
ist selbstgebaut,
errichtet auf den Trümmern dessen, was nie real war.

Eine letzte Hoffnung auf Befreiung
durch aufgemalte Fenster zum Paradies
erlischt im traurigen Angesicht des Kampfesmüden.

Die verbotenen Früchte waren vergiftet,
Risse in den Wänden erkennt der Desillusionierte als optische Täuschung
und die Mauern werden höher.

Vermeintlich neu entstandene Schlupflöcher
aus der Realität hinaus ins wahre Leben
werden mit Selbstverachtung gestopft.

Allein die eigene Unzulänglichkeit versperrt den Weg in die Freiheit –
altbewährte Überlebenstaktik, die vor weiterem Schmerz bewahrt.

Doch das Herz zieht in eine andere Richtung;
es will hinaus, voller Missgunst und Neid
auf diejenigen, denen höchstes Glück vergönnt ist.

Es ist unfähig zu verstehen, warum es gefangen bleiben muss,
bruchstückhaft im enger werdenden Brustkorb.

Die Lunge atmet Friedhofsluft,
ein Sommerwindhauch aus der Ewigkeit –
nichts als eine unsterbliche Erinnerung.

Zu spät begreift der Schwindende
dass sich ein Leben nie gelohnt hat,
wenn es nicht das eigene war.

Die Quelle allen Leidens
ist nicht das Vergangene, sondern das nie Gewagte,
weiß der Einsame – nun fallend ins ewige Nichts.

Die Hetzjagd

Sein Aussehen wirkt unscheinbar, doch ich weiß, dass er wegen mir hier ist. Spüre seine Blicke auf mir, während ich durch die Gänge laufe und meinen Korb befülle. Wie zufällig kreuzen sich unsere Wege mehrmals. Er greift nach einem Produkt im benachbarten Gang, genau auf meiner Höhe. Ich höre das Rascheln der Tüte. Bevor er durch das entstandene Loch schauen kann, mache ich auf dem Absatz kehrt und stelle meinen Korb im Vorbeigehen ab. Zügig steuere ich auf den Ausgang zu. Jetzt bloß keine Zeit verlieren. Draußen überrascht mich die kalte Luft, doch ich lasse mich nicht beirren und schlinge den Mantel enger um meinen Körper. Mein Auto gibt beim Öffnen das vertraute Geräusch von sich, leuchtet kurz auf und befördert mich, zuverlässig wie immer, vom Parkplatz auf die Straße. Ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel – alles in Ordnung. Niemand folgt mir. Ich atme tief durch, trete aber vorsichtshalber noch ein wenig kräftiger auf das Gaspedal. Die Nacht ist tiefschwarz und auf der Straße ist nicht mehr viel los. Nur ab und zu kommt mir ein Auto entgegen, was mich jedes verdammte Mal zusammenzucken lässt. Ich schalte das Radio ein und summe mit, um mich zu beruhigen. Noch etwa fünf Minuten, dann bin ich zuhause. In Sicherheit.
Als ich mich dem Eingang nähere, geht das Licht an. Grell und erbarmungslos. Geblendet kneife ich die Augen zusammen. Nach wenigen Sekunden habe ich mich daran gewöhnt und nutze den Moment, um mich einmal gründlich umzusehen. Die Blätter der Bäume bewegen sich im Wind. Eine Katze überquert die Straße. Die angrenzenden Häuser sind teilweise beleuchtet, schemenhaft erkenne ich eine Person in der Küche meiner unmittelbaren Nachbarn. Sie winkt mir zu. Ich antworte mit einem Nicken; es muss der Familienvater sein, der mich immer so freundlich grüßt und hin und wieder am Gartenzaun in ein Gespräch verwickelt. Ich wohne noch nicht lange hier, aber ich fühle mich sehr wohl und willkommen auf dem Land. Meistens jedenfalls.
Ich schließe die Tür direkt hinter mir ab. Auch, wenn ich mich hier am sichersten fühle, kann man nie vorsichtig genug sein. Noch ein Glas Whiskey, dann ziehe ich die Vorhänge zu und gehe ins Bad. Nach dem Zähneputzen durchquere ich mit Tunnelblick den dunklen Flur mit dem großen Spiegel. Noch fehlt hier eine Lampe, die wollte ich eigentlich vergangenes Wochenende anbauen … Aber solange ich das nicht geschafft habe, sehe ich im Dunkeln nicht in den Spiegel. Alte Angewohnheit aus Kindheitstagen.
Die Laken sind angenehm kühl. Ich lese noch ein paar Seiten, ehe meine Lider schwer werden und ich mich zur Wand drehe. Als ich aufwache, brennt die Nachttischlampe noch. Es müssen einige Stunden vergangen sein. Ich fühle mich wie gerädert. Es ist noch dunkel draußen. Ohne auf die Uhr zu schauen, lösche ich das Licht und falle in einen leichten, unruhigen Schlaf. Ein verlorener Handschuh auf einem Waldweg. Verschiedene Gestalten ohne Gesicht. Eine Tür, die sich langsam öffnet. Ein Luftzug an meinem Fuß. Ich schrecke hoch. Mein Herz rast. Ich schwitze, als hätte ich Fieber, und zwinge mich, schnell wieder einzuschlafen. Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkneife, werde ich nicht sehen, was nicht da ist. Jeder weiß, dass sich Möbel und andere Einrichtungsgegenstände nachts in undefinierbare Kreaturen verwandeln. Also bloß nicht hinschauen, sonst finde ich gar keinen Schlaf mehr. Etwas knackt über mir. Ganz ruhig. Das Haus ist alt und Holz arbeitet bekanntermaßen am liebsten, wenn es still ist. Ich bin stolz darauf, dass ich so rational bin. Es gibt für alles eine Erklärung …
Am nächsten Morgen werde ich von einem lauten Knall geweckt. Es ist noch früh, aber ich bin hellwach. Klang das nicht wie meine Haustür? Ich streife mir ein Shirt über und gehe durch den Flur Richtung Eingang. Der Schlüssel steckt noch. Ich probiere, die Klinke herunterzudrücken. Die Tür springt auf. Vor mir sehe ich die leere Straße.
Was geht hier vor? Sie verfolgen mich schon länger. Aber nur draußen. Zuhause war ich immer sicher. Als ich den ersten Schock verarbeitet habe, laufe ich das ganze Haus ab. Jedes Fenster, jede Tür wird kontrolliert. Der Hintereingang  – abgeschlossen. Keine Einbruchspuren, kein zersplittertes Glas. Selbst der Schuppen ist unversehrt. Ich bin ratlos. Sollte ich die Polizei rufen? Ich habe keine Beweise. Sie werden mir sagen, dass ich vermutlich nicht abgeschlossen habe. Dass der Knall einen anderen Ursprung hatte. Ich muss der Sache selbst auf den Grund gehen. Diese Nacht werde ich mich auf die Lauer legen. Tagsüber bleibe ich im Haus. Alle Türen sind verriegelt, die Vorhänge zugezogen. Als die Sonne untergeht, zünde ich kein Licht an. Sie sollen nicht sehen, dass ich zuhause bin. Jedes Mal, wenn ich draußen Schritte höre, beschleunigt sich mein Puls. Doch kurz darauf entfernen sie sich wieder. Es sind nur die Nachbarn. Jetzt bloß nicht verrückt werden!
Einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit werde ich müde. Ich ärgere mich und überlege kurz, das Licht anzumachen oder eine Runde spazieren zu gehen. Dann entscheide ich mich dafür, nur einen Kaffee zu kochen. Ich kann jetzt nicht aufgeben. Sie sind eindeutig zu weit gegangen. Heute werde ich erfahren, wer diese Menschen sind, die mich seit Monaten verfolgen und neuerdings (?!) auch noch in mein Haus einbrechen. Ich werde herausbekommen, was sie von mir wollen.
Brennender Schmerz breitet sich über meinen Oberschenkel aus. Fluchend springe ich auf. Etwas Warmes tropft mein Bein herunter. Ich muss mit der Kaffeetasse in der Hand eingeschlafen sein …
Wenigstens bin ich jetzt hellwach. Stundenlang streife ich durchs Haus und überprüfe Türen und Fenster – stets darauf bedacht, dass ich von draußen nicht zu sehen oder zu hören bin. Ein paar Mal knackt es, sonst bleibt alles ruhig. In den frühen Morgenstunden lasse ich mich auf einem Stuhl im Flur nieder und beobachte durch den Türspalt, wie das Licht am Hauseingang angeht. Sekundenlang passiert nichts. Keine Schritte, kein Schatten. Dann ein dumpfer Knall hinter mir. Ich drehe mich um – in der Tür zum Wohnzimmer steht jemand. Im Dunkeln erkenne ich nur eine schemenhafte Gestalt. Eine mir unbekannte Stimme raunt: „Du bist nicht allein.“ Die Tür fliegt zu. Mein Herz rast. Ich springe auf, rufe: „Wer ist da?“ Keine Antwort. Im Wohnzimmer ist niemand. Alle anderen Zimmer sind ebenfalls leer, Türen und Fenster geschlossen und unversehrt. Als ich aus dem Fenster in den Garten schaue, steht dort jemand am Zaun. Ja, zweifelsohne! Im Schatten der Bäume ist die Gestalt kaum zu erkennen. Ich stürze durch den Hinterausgang in den Garten. „Was wollt ihr von mir?“, frage ich in die Dunkelheit, doch die Person ist verschwunden. Ich suche den gesamten Garten ab – Fehlanzeige. Auf dem Nachbargrundstück regt sich etwas. Eine Tür fällt ins Schloss, dann höre ich Schritte, die näher kommen. Ich schaue vorsichtig über den Zaun. Es ist der Familienvater, mit dem ich mich so gut verstehe. „Oh, hallo“, sagt er verdutzt, als er mich sieht, „so früh schon wach?“ Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, nicke und lächle halbherzig: „Ja, Schlafstörungen. Da dachte ich, ich kann auch ein bisschen fleißig sein, statt mich nur herumzuwälzen.“ Zum Glück steht ein Eimer in der Nähe, den ich schnell schnappe und hochhalte. Meine Gedanken überschlagen sich. Was hat er mit dieser ganzen Sache zu tun? Ist er es, der in mein Haus eingedrungen ist?
Er nickt verständnisvoll. „Das ist vorbildlich. Ich habe heute frei und konnte auch nicht mehr schlafen. Da habe ich mir gedacht, ich kümmere mich mal um ein paar Dinge hier im Garten, die schon längst überfällig sind.“ Seine Unschuldsmiene macht mich wütend. Wie kann er so ruhig bleiben, wenn er gerade eine Straftat begangen hat? Erst jetzt fallen mir seine Arbeitshandschuhe auf. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor – ich habe sie schon einmal gesehen, aber an einem anderen Ort … Richtig: die wirren Träume der vorletzten Nacht. Was davon habe ich wirklich geträumt? Als er meinen Blick bemerkt, erklärt er lachend: „Die habe ich bei meinem letzten Spaziergang im Wald gefunden. Komisch, oder? Wenn man mal einen Handschuh verliert, okay … Aber gleich zwei?! Die muss wohl jemand weggeworfen haben.“ Ich zwinge mich, mitzulachen, und winke ab: „Die Menschen heutzutage!“ Gleichzeitig wird mir bewusst, dass er mir nie seinen Namen verraten hat. Und wie verdächtig sein Verhalten allgemein wirkt. Welche „Dinge“ in seinem Garten sind denn so dringend, dass er vor Sonnenaufgang damit anfangen müsste – an seinem freien Tag? Und wer trägt allen Ernstes Arbeitshandschuhe, die er auf einem Waldweg gefunden hat? Und wenn mein Traum wirklich kein Traum war … wer waren dann die anderen Leute, deren Gesichter ich nicht erkennen konnte? Was zur Hölle ist passiert? Mir wird schlecht. Ich muss hier weg. Entschuldigend sage ich zu ihm: „Na dann, ich muss los. Schönen Tag noch!“ Als ich im Auto sitze, überkommt mich ein aufgeregtes Kribbeln. Ich weiß, dass es das Richtige ist, so weit wie möglich wegzufahren. Trotz all der Fragen, die noch in meinem Kopf herumspuken, habe ich seit Langem endlich wieder ein Gefühl der Klarheit. Er ist es. Er ist beteiligt in dieser ganzen Verschwörung gegen mich – aus Gründen, die ich hoffentlich bald erfahren werde. Ein Puzzleteil passt. Und ich brauche nur genug Abstand, um den Rest auch noch auszutüfteln. Ich fahre lange geradeaus. Die Straßen sind leer. Mit der Zeit fällt die Anspannung, ein ständiger Begleiter der letzten Wochen und Monate, von mir ab. Ich bin geradezu euphorisch. Endlich raus aus diesem Wahnsinn! Ich lege meine Lieblings-CD ein und singe laut mit. Ein Gefühl, das ich eigentlich nur aus Kindheitstagen kenne, überkommt mich: Unbeschwertheit. Keine Sorgen, keine Ängste. Da sind nur ich und die Straße. Und die Vorfreude auf das, was kommt – ich fahre in den Urlaub und weiß nicht einmal, wohin. All diese angenehmen Gefühle, die so lange den anderen weichen mussten, machen sich nun in mir breit. Ich werde übermütig, fahre schneller, schneide Kurven. Es ist ja niemand außer mir unterwegs. Was soll schon passieren?
Plötzlich sehe ich im Rückspiegel etwas aufblitzen. Ein silberner Pick-up. Das Kennzeichen kann ich nicht entziffern. Wer fährt so ein Auto? Mir fällt absolut keine Person ein, die ich kenne. Ich nehme den Fuß vom Gas, um den Abstand zu verringern. Der Pick-up wird ebenfalls langsamer. Ich trete abrupt das Gaspedal bis zum Boden. Mein Wagen beschleunigt schnell, der Pick-up auch. Was mache ich denn jetzt? Bei der nächsten Gelegenheit biege ich ein paar Mal kurz hintereinander ab. Das Fahrzeug folgt mir immer noch mit großem Abstand. Als wir durch einen kleinen Ort fahren, halte ich unvermittelt vor einer Bäckerei. Ich bleibe im Auto sitzen und warte eine gefühlte Ewigkeit. Im Spiegel kann ich nichts erkennen, da ich direkt hinter einer Kurve geparkt habe. Irgendwann fährt der silberne Pick-up an mir vorbei – ganz langsam, sodass ich einen langen Blick riskieren kann. Das Kennzeichen ist mir unbekannt. Das Auto hat einige Beulen, der Lack ist an vielen Stellen abgeplatzt. Die Fahrerkabine ist ungewöhnlich dunkel dafür, dass die Sonne bereits aufgegangen ist, doch als ein wenig Licht von hinten hereinfällt, sehe ich – nichts. Niemand fährt dieses Auto. Das kann nicht wahr sein. Ich stürze auf die Straße und laufe dem Pick-up bis zum Ortsausgang nach. Dann verschwindet er in der Dunkelheit des Waldes. Erschöpft mache ich mich wieder auf den Weg zu meinem Auto. In der Nähe des Ortsausgangs kommt mir eine Frau auf einem Fahrrad entgegen. Ich halte sie an und frage, ob sie diesen Pick-up auch gesehen hat. Sie mustert mich mit einem merkwürdigen Blick. „Welchen Pick-up?“, fragt sie argwöhnisch. Ich seufze und gehe weiter, doch ich spüre, wie sie mir hinterherschaut. Erst nach einigen Metern höre ich, wie sie auf ihr Rad steigt und weiterfährt. Bevor ich mich wieder ins Auto setze, beschließe ich, mir noch schnell Brötchen zu holen. An meine letzte Mahlzeit kann ich mich nicht erinnern. Die Bäckerei ist klein, vermutlich ein Familienbetrieb. Nachdem ich bei der freundlichen Verkäuferin bestellt habe, schaut sie mir direkt in die Augen und sagt: „Pass auf. Da ist jemand hinter dir.“ Ich drehe mich um, doch außer uns ist niemand hier. Als ich sie wieder ansehe, lächelt sie noch immer so freundlich wie bei der Begrüßung. Als hätte sie mich gerade nach einer Treuekarte gefragt. Ich blinzele ein paar Mal. Dann frage ich: „Wie bitte?“ Ihr Lächeln erscheint mir auf einmal so aufgesetzt. „Darf es noch etwas sein? Ein Kaffee vielleicht?“, fragt sie völlig selbstverständlich. Ich zögere. Was war das denn eben? „Ja, gerne“, antworte ich, nehme meine Bestellung entgegen, bezahle und verlasse schnell die Bäckerei. Auf der Straße schaue ich mich flüchtig um. Ein paar Leute gehen ihres Weges, vermutlich sind sie auf dem Weg zur Arbeit. Niemand scheint mich zu registrieren. Ich steige ins Auto und fahre lange, ohne, dass etwas Besonderes passiert. Niemand folgt mir. Weit und breit ist kein silberner Pick-up in Sicht. Mit Einbruch der Dämmerung werde ich müde. Ich drehe die Musik lauter, denn ich will noch ein Stück fahren. Je größer die Entfernung zu meinen Verfolgern, desto besser. Nach einem kleinen Zwischenstopp an einer Tankstelle biegt hinter mir ein Fahrzeug auf die Straße – der Pick-up. Wo kommt der plötzlich her? An der Tankstelle hatte ich außer meinem nur ein weiteres Auto gesehen. Und das war wesentlich kleiner … Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewissere ich mich, dass es noch dort steht. Unmöglich, dass ich den silbernen Pick-up übersehen habe. Den ganzen Tag lang habe ich jedes Auto, das mir begegnet ist, genauestens inspiziert. Vor allem ein Pick-up wäre mir aufgefallen!
Jetzt kommt der Wagen immer näher. Die Fahrerkabine liegt im Dunkeln. Ich zwinge mich, das Tempo beizubehalten. Als wir den Ort verlassen haben, fährt der Pick-up so dicht auf, dass ich Angst bekomme. Schnell biege ich in einen Feldweg ein und halte an. Wieder ewiges Warten. Diesmal passiert nichts. Der Pick-up fährt nicht weiter. Er ist auch nicht hinter mir. Ich steige aus und gehe um mein Auto herum Richtung Landstraße: nichts. Nur Stille und Dunkelheit. Mein Herz springt mir jeden Moment aus der Brust. Bestimmt kann man es noch in mehreren Kilometern Entfernung schlagen hören. Ratlos setze ich mich ins Auto und schließe die Augen.
Als ich aufwache, sieht die Umgebung völlig anders aus. Es ist hell, vermutlich mitten am Tag, und statt eines Feldweges liegt ein dichter Wald vor mir. Ich stolpere aus dem Auto und lasse meinen Blick – wie immer – durch die Gegend schweifen. Keine Menschenseele weit und breit. Auch kein Auto. Ich atme auf. Jene Orte, an denen sich außer mir niemand aufhält, sind mir seit einer Weile am liebsten. Ich verstehe nicht, wie man vor einsamen Wäldern, Seen und Feldern Angst haben kann – die Natur ist so friedlich. Vom Menschen allein geht die Gefahr aus. Ich schließe mein Auto ab und ziehe los. Den Kopf frei bekommen, die frische Waldluft einatmen, den weichen Boden unter den Füßen spüren … Genau das brauche ich jetzt. Ich muss mich erholen und konzentriert sein, um zu verstehen, was hier los ist. Ein leichter Wind zieht auf, die Vögel singen – der Wald bebt vor Leben. Überall krabbeln, hüpfen und fliegen kleine Insekten. An einer Lichtung entdecke ich einen Sprung Rehe. Mit jedem Schritt wird mir leichter ums Herz. Es wird alles gut. Bestimmt stellt sich am Ende heraus, dass das Ganze ein riesiger Irrtum war. Was oder wen auch immer sie suchen: Sie haben den Falschen verfolgt und ausspioniert. Dafür werden sie mir ordentlich Schadensersatz zahlen müssen! Und das Wichtigste: Ich werde wieder in Frieden leben können.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann mache ich mich auf den Weg zurück zum Auto, um endlich eine Unterkunft ausfindig zu machen, in der ich ein paar Tage bleiben kann. Der Rückweg kommt mir nicht nur länger, sondern auch anders vor. Vielleicht bin ich unbewusst eine andere Route gegangen … Normalerweise kann ich mich ganz gut orientieren. Es gibt immer kleine Besonderheiten, die sich einprägen. Dieses Mal kommt mir absolut nichts bekannt vor. Nachdem ich eine Weile gelaufen bin, schneidet mir ein Bach den Weg ab. Ich drehe mich um und sehe im Augenwinkel, wie etwas ganz in meiner Nähe im Unterholz verschwindet. Für ein Reh schien es zu groß und kräftig … Welche Tiere gibt es hier noch? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass Bären in der Gegend gesichtet wurden. Andererseits weiß ich nicht einmal mehr genau, wo ich hier bin. Vorsichtig gehe ich ein paar Schritte in die Richtung des Tieres. Wenn ich ihm näher komme, müsste es doch eigentlich fliehen. Ich gehe weiter, bis ich direkt dort stehe, wo das Wesen soeben verschwunden ist. Nichts. Kein Rascheln, kein Laut, keine Schritte. Jetzt nicht wieder durchdrehen.
Ich überlege, ob ich es schaffe, über den Bach zu springen, doch ich fürchte, er ist zu breit. Ich habe keine Lust, ewig in nassen Klamotten umherzulaufen. Also schlage ich zunächst die Richtung ein, aus der ich gekommen bin, und nehme dann eine Abzweigung nach links. Alles in diesem Wald, was mir vorhin so viel Energie und Zuversicht gegeben hat, kommt mir auf einmal bedrohlich vor. Gespenstisch. Jedes Knacken im Geäst lässt mich zusammenzucken. Vor allem hinter mir vernehme ich öfter Geräusche, die mich beunruhigen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen – wenn mich wirklich jemand verfolgt, soll er nicht mitbekommen, dass ich Angst habe. Das Licht ist anders, kälter als vorhin. Dabei wird wahrscheinlich bald die Sonne untergehen und den Himmel rötlich färben. Nach mehreren Abzweigungen erkenne ich endlich meinen Weg wieder – den Weg, den ich gekommen bin. Er wird mich zurück zum Auto führen. Ich muss fast ein bisschen lachen, dass ich mich im Wald verlaufen habe. Ausgerechnet ich. Ich bin so erleichtert, dass ich fast den Handschuh übersehe, der am Wegesrand liegt. Ein Arbeitshandschuh, genau wie der aus meinem Traum. Und genau wie der, den mein Nachbar hat … Ich hebe ihn auf und stecke ihn in meine Jackentasche. Etwas schneller gehe ich weiter. Es sollte nicht mehr weit sein. Ich habe das Gefühl, dass sich wieder etwas verändert hat. Die Bäume scheinen näher gerückt zu sein, sie engen mich regelrecht ein. Ich muss hier raus. Sofort. Jetzt höre ich Schritte hinter mir, aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, ist da nichts. Nur diese riesigen, bedrohlichen Bäume. Ich renne. Ich falle. Alles dreht sich, die Konturen verschwimmen. Was passiert mit mir? Nur mit Mühe schaffe ich es, wieder aufzustehen. Wurde ich unter Drogen gesetzt? Der Kaffee … Ich wusste, dass diese Verkäuferin etwas damit zu tun hat. Fast hätte ich ihr diese scheinheilige Rolle abgekauft. Warum ist es eigentlich schon wieder dunkel? Ich muss den Sonnenuntergang verpasst haben. Dieses bläulich-kalte Licht vorhin kam mir ohnehin komisch vor. Ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere, denn ich sehe kaum etwas. Nur ab und zu lassen kleine Lücken zwischen den Baumkronen zu, dass etwas Mondschein auf meinen Weg fällt.
Irgendwann sehe ich die Lichtung. Mein Auto! Ich laufe schneller. Gleich bin ich frei, fahre ganz weit weg … Kurz vor meinem Ziel packen mich Hände, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, genau wie die Schritte. Mit einer unfassbaren Kraft drücken sie mich zu Boden, umfassen meine Kehle … Ich versuche zu schreien, winde mich, bekomme keine Luft. Aber ich habe keine Chance. Sie drücken immer fester zu. Mir bleiben wahrscheinlich nur noch wenige Augenblicke. Ich versuche, meinem Mörder ins Gesicht zu blicken, doch ich erkenne nichts. Kein Gesicht. Der Täter hat kein Gesicht … Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr Gestalten nehme ich wahr. Hinter ihm, neben ihm. Überall sind diese Gestalten. Sie alle bestehen aus Umrissen, doch sie haben keine Gesichter. Eine von ihnen packt meine Hände und entfernt sie mit aller Kraft von meinem Hals. Ich schreie.
„Alles okay. Wir helfen Ihnen“, sagt eine Stimme. Ich kneife die Augen zusammen. Jetzt erkenne ich ein Gesicht. Große, grüne Augen, feine Gesichtszüge, schmale Lippen. Dahinter entdecke ich ein weiteres Gesicht, jedoch nicht so klar und deutlich. Wer sind diese Menschen? „Wie ist Ihr Name?“, fragt mich die Frau, die direkt vor mir kniet. Ich spüre, wie das Blut durch meine Adern fließt und der Sauerstoff meine Lungen füllt. Hektisch rappele ich mich auf. Niemand drückt mich zurück auf den Boden. Ich sehe mich um. Keine Spur von den restlichen Gestalten. Warum sind plötzlich nur noch zwei meiner Peiniger hier? Wissen sie nicht schon längst alles über mich? Ich mustere die beiden. Sie tragen Uniformen in grellen Farben. Die hintere Gestalt erkenne ich jetzt besser. Es ist ein Mann mit kurzen, dunklen Haaren. „Die Polizei ist auf dem Weg“, sagt die Frau. Jetzt begreife ich. Endlich, endlich gibt es Beweise. Sie sind nicht meine Peiniger. Sie werden mir zuhören, glauben, helfen. „Haben Sie sie gesehen? Wo sind sie hin?“, frage ich die Frau. Sie wirft ihrem Kollegen einen Blick zu, bevor sie mir ruhig erklärt: „Hier ist niemand außer Ihnen. Sie sind eine akute Gefahr für sich selbst. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Ihnen helfen.“ Dann höre ich Sirenen in der Ferne. Ich greife in meine Jackentasche. Sie ist leer.

Welke Rosen

Gedanken kreisen wie Vögel auf Beutezug
deine Erinnerungen prasseln auf dich nieder
wie welke Rosen, einst vom Himmel aufgefangen
du atmest tief ihren Duft ein
und schließt die Augen …

Ich hebe die gefallenen Rosen auf
später, als du schon fortgegangen bist
achtlos warfst du sie zu Boden
wütend, dass sie dir nicht gehorchten
enttäuscht, dass sie dich nicht zurücktrugen
in längst vergessene Welten.

Auch ich will ihren Duft kennen
den Duft der welken Rosen
traurig sehen sie aus – und zugleich wunderschön
ich schließe die Augen
doch der Duft bleibt mir verborgen
es sind deine Erinnerungen
und ich soll sie nicht kennen.

Wohin gehst du in deinen Träumen?
Du bist gefesselt von der Vergangenheit
die Erinnerung raubt dir die Luft zum Atmen
und das Leben im Gestern macht dich kaputt.
Komm zurück
zu mir.

(April 2010)

Negativ-Schatten

Du folgst mir,
doch ich erkenne dich nicht,
wenn die Sonne scheint.
Erst in der Dunkelheit
werden deine Umrisse sichtbar.
Du bist mein Schatten,
ein düsterer Teil von mir.
Bleischwer legst du dich auf mein Gemüt
und raubst mir die Luft zum Atmen.
Lass mich los,
ich will
leben.

Zerrbild

Du bist nie wenig genug.
Kannst nichts dem Zufall überlassen,
jeder Bissen ist abgezählt.
Selbst die Ziffern auf der Waage
sagst du genau voraus,
Tag für Tag.
Eine einzige Mahlzeit beschwert dein Gemüt
für den Rest der Woche,
deine Schwäche quillt dir
aus jeder Pore deines Körpers entgegen.

Hunger hingegen beruhigt dich,
er bringt viele Freunde mit.
Ihre Namen sind
Selbstbewusstsein, Stolz
und Überlegenheit.
Ja, du bist ein Überlebenskünstler
obwohl du dir selbst
Stück für Stück
dein Leben nimmst.

Regen

Ein Tropfen rinnt durch dein Gesicht
über die Wangen bis hin zu deinen Lippen
tropft hinunter auf den harten Asphalt.
Kalter Nebel aus Schweigen umgibt uns
schwer, dicht, undurchdringlich wie die Nacht.
Viel zu schön, als dass ihn jemand durchbrechen würde.
Der Boden verschluckt uns
ein tiefes, schwarzes Loch
und wir hören nicht auf, zu fallen
ohne aufzufallen
denn niemand hört unsere stummen Schreie.
Dein Mund bewegt sich, die Worte verschwimmen
vermischen sich mit meinen Gedanken.
Deine Hand nähert sich langsam meinem Gesicht
streicht sanft den Tropfen auf meiner Wange weg
ein warmer Sommerwindhauch
durchbricht kurz den Regen …

Woher kommt diese verdammte Traurigkeit?
Ich schließe die Augen
und spüre
nichts mehr.
Windstille.
Ich atme tief ein
will alles vergessen
will uns vergessen.
Gedanken kreisen ohne Sinn
bin weit weg.
Dunkelheit, als ich die Augen öffne
ich bin so still und kalt wie diese Nacht
verlasse diesen Ort
streife wahllos durch die Straßen.
Eine Kreatur am anderen Ende entfernt sich von mir
mit hängendem Kopf und hochgezogener Kapuze.

Abschied und Verlust

Warum hört eigentlich niemand, wenn einem das Herz bricht? Der Schmerz ist so extrem, dass es überall auf der Welt zu hören sein müsste. Doch welches Geräusch sollte das sein? Abschiede haben eine unvorstellbare Kraft, und doch sind sie nicht so recht greifbar. Wir sind ständig in Gefahr, etwas zu verlieren, was uns wichtig ist, und doch leben wir, als stünde nie ein Abschied bevor. Andererseits: Kann man sich auf Abschiede vorbereiten?

Je öfter ich mir in Erinnerung rufe, wie kostbar und zerbrechlich all das ist, was mich mit Glück erfüllt, desto inniger wird meine Beziehung dazu. Das kann sehr schön sein – solange all das da ist. Und genau hier liegt das Problem: Praktisch sekündlich bereite ich mich auf eventuelle Abschiede vor, habe im Hinterkopf immer das Worst-Case-Szenario und gleichzeitig so viel Hoffnung, dass bestimmt alles so bleiben wird, wie es ist, dass das Leben es doch auch mal gut mit mir meint. Und wenn ich dann doch Abschied nehmen muss, bin ich schockiert. Weil ich nie, niemals vorbereitet sein kann. Ich erwarte, dass es schlimm wird, aber es ist in Wirklichkeit viel schlimmer als in meiner Vorstellung. Ich nehme an, es wird mir schlecht gehen, doch in Wahrheit gehe ich durch die Hölle, wieder und wieder, und es hört nicht auf. Der Schmerz hört nicht auf, die Bestürzung und der Schock über all die zerstörten Hoffnungen und Träume zwingen mich in die Knie, doch am schlimmsten ist die Machtlosigkeit. Ich kann nichts ändern, kann die Zeit nicht zurückdrehen oder gar überspringen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem ich den Verlust akzeptiert (Ich spreche bewusst nicht von „überwinden“ o. Ä., da das bedeuten würde, dass man vollends mit etwas „abschließen“ kann, was einen zutiefst erschüttert hat – das ist nicht möglich, da vor allem Trauer nonlinear ist und uns sogar für den Rest unseres Lebens jederzeit unterschiedlich stark begleiten kann.) oder irgendeinen anderen Weg gefunden habe, damit zu leben. Ich kann nichts tun außer die Achterbahn der Gefühle durchzustehen, die ein Verlust in mir weckt.

Zum Beispiel die Leere, die folgt, und den Verlust meiner selbst. Ich spüre nichts mehr, bin nur noch ein Zombie. Alles läuft automatisch ab, ohne meine Beteiligung. Ich existiere nicht mehr.

Trauer und Schmerz hingegen sind sehr körperlich und lassen mich wieder spüren, dass ich lebe. Allerdings auf eine sehr beschwerliche Art, die mich wünschen lässt, ich würde nichts mehr fühlen, nie wieder. Denn sie legen sich auf mein Herz, ein bleischwerer Nebel, der mich nach unten zieht, und dazu kommen die Stiche in der Brust, so regelmäßig wie mein Herzschlag.

Die Wut verleiht mir Kraft. Sie treibt mich an und lähmt gleichzeitig, indem sie immer dann aufkommt, wenn alles ganz normal scheint. Die Erde dreht sich weiter. Die Sonne geht morgens auf und ich verstehe nicht, warum, denn meine Welt bleibt dunkel. Hat denn niemand bemerkt, dass etwas fehlt – ein ganz wichtiger Teil, ohne den es nicht weitergehen kann?

Die Hoffnung, wenn auch nur winzig klein, dass das alles nur ein ganz schlimmer Albtraum ist, macht es nicht wirklich leichter. Sie begleitet mich erschreckend lange, immer wieder drängt sie sich in meine Gedanken, um sich in Erinnerung zu rufen und mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich doch in einer eigenen Welt lebe. Realitätsflucht als Selbstschutz. Auf Dauer leider nicht sehr effektiv.

Ich weiß einfach nie so recht, wie ich mit Verlusten umgehen soll. Zeit meines Lebens begleiten sie mich und doch fühlt sich der Schmerz jedes Mal anders an – weswegen ich nie vorbereitet sein kann auf das nächste Mal. Das ist verdammt ermüdend, wenn man schon sehr, sehr viel gelitten hat. Immer wieder versuche ich, damit zu leben, all die Gefühle und Gedanken zuzulassen, die damit einhergehen. Aber manchmal macht einen all das, was einem widerfährt, nicht unbedingt stärker oder zu einem besseren Menschen, sondern einfach nur müde und zutiefst erschüttert. Und ich kann auch nicht immer dankbar für alles sein, was ich durchmache, denn manchmal ist es einfach nur schrecklich und nicht auszuhalten. Es ergibt eben nicht immer alles einen Sinn. Und dann gilt es, auch damit zu leben, all den Schmerz zu DURCHleben und zu ÜBERleben.

Wortfindungsstörungen oder Die Facetten der Abschiedsmelanstalgie

Es gibt Momente, die fühlen sich an wie die finale Folge meiner Lieblingsserie. Wie der letzte Urlaubstag vor der Abreise. Wie die Abschiedsfeier eines Freundes, der ein Auslandsjahr plant. Wie das Ende meiner Schulzeit. Wie lange Umarmungen am Bahnhof, mit Menschen, mit denen ich viel zu wenig Zeit trotz viel zu großer Verbundenheit verbringen kann. Ehrlich gesagt fühlt sich für mich oft das ganze Leben so an. Warum gibt es in unserer Sprache keinen Begriff für dieses Gefühl?

Abschiedsschmerz reicht nicht, denn da ist so viel mehr als einfach nur Schmerz. Zum Beispiel Erinnerungen und Erlebnisse, die Dankbarkeit und Sehnsucht auslösen, Trauer und Frustration, Verzweiflung und Hoffnung. Der Schmerz beim Abschied mag allerhöchstens eine der vielen Folgen all dieser Gefühle sein, maximal eine Nebenerscheinung. Am meisten zu kämpfen habe ich eigentlich mit der Tatsache selbst, dass alles endet, und dass ich nichts daran ändern kann – was mich darüber hinaus im Nachhinein oft fürchten lässt, dass ich etwas Wichtiges verpasst haben könnte, während ich in meinem Kopf feststeckte und versucht habe, all die Geschehnisse und Emotionen zu verarbeiten. Manchmal blitzt dabei sogar ein wenig Erleichterung auf, dass es vorbei ist – jeder Mensch, der Gefühle sehr intensiv wahrnimmt, weiß, wie anstrengend stark emotional aufgeladene Zeiten sein können, egal ob positiv oder negativ (meistens ist es ohnehin eine Mischung aus beidem). Danach tut es unfassbar gut, die mentalen Akkus mal wieder aufzuladen, wenn wieder ruhigere Zeiten anbrechen.

Für Nostalgie ist der Moment zu jung; ja, er dauert genau genommen sogar noch an. Er ist noch nicht vorbei und deshalb kann ich ihn ein letztes Mal in vollen Zügen genießen, vielleicht sogar noch intensiver, jetzt, da ich mir seinem baldigen Ende bewusst bin. (Und nur, wenn ich mir nicht wieder selbst im Weg stehe …)

Melancholie erscheint mir vor allem nach Freuds Definition zu resignierend, denn obwohl sie zweifelsohne ein großer Teil meiner Persönlichkeit ist, reicht sie in diesem Fall nicht aus, um meinen Gefühlszustand zu beschreiben. Ich bin viel zu dankbar, die begrenzte Zeit des Glücks noch für ein paar weitere Atemzüge auszukosten, als dass ich jetzt schon (wieder) der Schwermut verfalle. Aber Moment mal – tue ich das nicht doch irgendwie, indem ich viel zu oft über das Ende all dessen nachdenke, was noch nicht vorbei ist? Und wie masochistisch wäre das?

Nein, stopp. Es muss einen Weg geben, dem Ende all der schönen Dinge entgegenzutreten, ohne es schon vorher unzählige Male im Geiste durchlebt zu haben. Und wie ist es möglich, damit zu leben, wenn ich die Endlichkeit weder ausblenden kann noch will, weil das vollkommen realitätsfern wäre? (Hier haben wir es wieder: Ignoranz bedeutet eben nicht Glückseligkeit, sondern Selbstbetrug.)

Vielleicht hilft ja Akzeptanz. Eines Tages kann ich eventuell die Endlichkeit akzeptieren, die mir so schwerwiegende Probleme bereitet und gleichzeitig die schönsten und emotionalsten Stunden meines Lebens beschert. Vielleicht. Nicht heute, auch nicht morgen, aber hoffentlich jedes Mal ein kleines bisschen mehr. Oder mal mehr, mal weniger. Wenn ihr unterdessen bessere Vorschläge als Abschiedsmelanstalgie zur Beschreibung dieser Gefühle habt: Immer her damit.